Seit einem Monat hat Karlsruhe die neueste und kürzeste U-Bahn Deutschlands. Die sogenannte „Kombilösung“ kann in Baden-Württemberg als kleine Schwester von Stuttgart 21 gelten. Auch ihr gingen lange Kontroversen voraus, die durch fortwährende Kostensteigerungen bis heute nicht verstummen.
Als im August 1970 erstmals Planungen der Deutschen Bundesbahn für einen unterirdischen Bahnhof in Stuttgart publik wurden, war in Karlsruhe schon seit einigen Tagen ein Arbeitskreis für eine unterirdische Straßenbahn beschlossen. Wie in der Landeshauptstadt sollte die Diskussion darüber aber noch Jahrzehnte anhalten. Doch ohne Stuttgart 21 hätte es die frisch eröffnete Karlsruher U-Bahn nicht gegeben, sind einige BeobachterInnen überzeugt. „Badischer Neid“ sei eine wesentliche Triebfeder gewesen. Jahrzehntelange Kränkungen und das Gefühl der Benachteiligung durch Württemberg erzeugten vielfach ein „badisches Trauma“. Noch heute ist die Landesvereinigung Baden in Europa überzeugt: „Baden und besonders Karlsruhe haben das Nachsehen“. Um die „unausgewogene Zuteilung von Landesmitteln auf nahezu allen Gebieten“ zulasten des badischen Landesteils aufzuhalten, müssten die Badener „die Dinge selbst in die Hand nehmen“. In der Kombilösung kam dabei vor allem der Bohrer zum Einsatz.
Mit fünf Jahren Verspätung nahm die mit 3,6 Kilometern wohl kürzeste U-Bahn Deutschlands Mitte Dezember ihren Betrieb auf. „Mit der Kombilösung entsteht eine neue Stadt, die wir dynamisch nutzen wollen“, gab sich der Karlsruher Oberbürgermeister Frank Mentrup bei der Eröffnung überaus zufrieden über eine „wichtige und gelungene Investition“. Auf knapp 1,5 Milliarden Euro prognostizierte die Stadt die Herstellungskosten der Kombilösung aus einem Straßenbahn- und einem Autotunnel zuletzt. Vor allem diese hohen Kosten sorgen bis heute für Kritik.
Das Bauprojekt wird dreimal so teuer wie geplant
Über die Untertunnelung der Haupteinkaufsstraße stimmten die Karlsruher BürgerInnen gleich zwei Mal ab. Nach einer breiten Ablehnung im ersten Anlauf fiel der Bürgerentscheid sechs Jahre später zugunsten des Tunnels aus. Die knappe Zustimmung im Jahr 2002 ging maßgeblich auf einen Kniff zurück: Die Frage der umstrittenen U-Bahn wurde mit einer Neugestaltung der die Stadt trennenden, zentralen Verkehrsachse verbunden, die selbst bei Gegnern der U-Bahn weithin auf Akzeptanz traf. Vor dem Bürgerentscheid wurden beide Maßnahmen mit Kosten von 530 Millionen Euro taxiert, wovon die Stadt 80 Millionen Euro beisteuern und der große Rest durch Zuschüsse von Land und Bund getragen werden sollte.
Doch diese Kostenschätzung war nicht lange zu halten. Schon vor Baubeginn wurde sie nach oben geschraubt. Nach immer neuen Schätzungen und Kostensteigerungen hat sich die jüngste Prognose mittlerweile fast verdreifacht. Besonders getroffen ist der kommunale Haushalt. Nach den Kriterien von Bund und Land können nur zwei Drittel der Gesamtkosten gefördert werden, und auch dabei steht die Genehmigung der Mehrkosten durch das Bundesverkehrsministerium noch aus. Selbst wenn diese Kostensteigerungen anteilig getragen werden, steigt der Eigenanteil der Stadt auf 40 Prozent der Gesamtkosten, also fast 600 Millionen Euro, musste die Stadtverwaltung im Sommer 2021 mitteilen. Hinzu kommen die gestiegenen Betriebs- und Unterhaltungskosten für die Tunnelanlagen, die von den städtischen Verkehrsbetrieben alleine zu tragen sind.
Die Kostensteigerungen seien ärgerlich, „allerdings werden bei 20 Jahren Projektdauer, über die wir hier sprechen, die Kosten schon durch den allgemeinen Preisanstieg höher“, sagt der Landesverkehrsminister Winfried Hermann. Doch die Kosten waren von Anfang an zu niedrig kalkuliert.
Die Kosten wurden absichtlich kleingerechnet
„Bei Großprojekten wird zu Beginn natürlich immer niedrig gerechnet, um die Bevölkerung nicht zu verschrecken“, räumt Dieter Thomann ein, dass die „Kosten anfangs wohl nach unten gerechnet wurden.“ Der ehemalige Personalchef der Karlsruher Verkehrsbetriebe ist einer der großen Befürworter der Kombilösung und warb als Vorsitzender der Vereinigung „Ja zur Kombilösung“ für das Projekt. Trotz immenser Teuerungen ist für ihn „deutschlandweit keine U-Bahn so gelungen wie die Karlsruher“ und die Kombilösung ein „rundum gelungenes Konzept“.
Härter urteilen die Gegner: „Es gibt Kosten, die laufen aus dem Ruder, aber das war einfach bewusst gelogen“, sagt Harry Block, der im Karlsruher Gemeinderat (Grüne) und später in verschiedenen Initiativen die unterirdische Straßenbahn verhindern wollte. Der Kampf zwischen Befürwortern und Gegnern des Projekts drehte sich lange um diese symbolische Summe. Als die Gegner des Projekts aufgrund der Kostensteigerungen einen dritten Bürgerentscheid forderten, sprach der damalige Oberbürgermeister Heinz Fenrich 2009 „den Argumenten der Gegenseite“ die Seriosität ab: „Wer der Stadt nach detaillierter Kalkulation und umfangreicher Planungsarbeit Konzeptlosigkeit und finanzielles Abenteurertum vorwirft, der disqualifiziert sich mit astronomischen Zahlen ohne jegliche Berechnungsgrundlage selbst.“
Wie nützlich ist die neue U-Bahn?
Obwohl GegnerInnen und BefürworterInnen des Projekts das Ziel einer attraktiveren Innenstadt teilen, sehen sich beide Seiten bis heute in ihren ursprünglichen Hoffnungen und Befürchtungen bestätigt. Während Thomann die Kombilösung als „Quantensprung für die Stadt“ bezeichnet, wurde für Heiko Jacobs, einen weiteren Tunnel-Gegner, „mit Kanonen auf Spatzen geschossen und unnötig Geld verschwendet“. Die Gegner schlugen verschiedene kostengünstigere Alternativen vor. Mit dem Verweis auf kleinere oder gar keine Zuschüsse aus Berlin und Stuttgart wies das damalige Stadtoberhaupt Fenrich sie aber stets zurück.
Doch auch bei den Zuschussgebern gab es Zweifel am Projekt. Der volkswirtschaftliche Nutzen wird bei öffentlich geförderten Bauprojekten durch den Nutzen-Kosten-Faktor ermittelt. Nur wenn der Quotient über 1 liegt, sind Zuschüsse durch Bund und Land möglich. Zu Beginn der Bauarbeiten 2010 wurde dieser Faktor mit 1,12 angegeben. Der gesellschaftliche Nutzen sollte demnach zwölf Prozent über den Kosten liegen, die damals noch auf knapp 590 Millionen Euro geschätzt wurden. 2015 riefen die kontinuierlichen Kostensteigerungen den Bundesrechnungshof auf den Plan, der in einem Brief Zweifel an der Wirtschaftlichkeit der Maßnahme anmeldete. Bei der Prüfbehörde gehen bei Nutzenfaktoren unter 1,2 regelmäßig die Alarmglocken an. „Wir hatten Hinweise, dass das Nutzen-Kosten-Verhältnis durch Kostensteigerungen auf 700 Millionen unter 1 fällt“, sagt ein Sprecher des Bundesrechnungshofs. Es folgten neue Berechnungen des Bauherrn, letztlich wurde der Bau mit drei Jahren Verzögerung fortgesetzt. Aufgrund begrenzter Kapazitäten und dem Abschluss der Baumaßnahmen beschäftigt sich der Bundesrechnungshof derzeit nicht mehr mit der Kombilösung, aber: „Mit weiter steigenden Kosten des Projektes dürfte sich der Faktor nicht verbessert haben“, sagt der Sprecher. Auf Anfrage gab das Landesverkehrsministerium den aktuellen Nutzen-Kosten-Faktor der Landesförderung mit 1,02 an. Das Problem: Das Ministerium legt dabei nur Kosten von 891 Millionen Euro zugrunde.
Der Karlsruher Oberbürgermeister sieht in der Fertigstellung der Kombilösung indes einen „Startschuss für das neue Karlsruhe“. Als „Rückgrat der innerstädtischen Infrastruktur“ bereite sie „den Boden für die Entwicklung unserer Innenstadt als unverwechselbarer, attraktiver Ort für Leben und Erlebnis, Einkaufen und Begegnung.“ Die straßenbahnfreie Einkaufsstraße ist auch für Thomann der große Pluspunkt. „Die Menschen brauchen keine Angst mehr zu haben vor der Straßenbahn“, sagt er und verweist auf die StraßenbahnfahrerInnen, die im Tunnel keine querenden Menschen mehr fürchten müssten.
Der Weg zur U-Bahn sei eine Odyssee, sagen Gegner
„Für ältere Menschen ist der Weg zur U-Bahn eine Odyssee“, sagt dagegen Tunnel-Gegner Harry Block. Nichts hätte sich verbessert und die Kombilösung nur bewirkt, dass „die Stadt jetzt investitionsunfähig“ sei. Auch Jacobs klagt über weggefallene Haltestellen und Straßenbahnlinien durch die Umgestaltung. Für das Ziel der Landesregierung, die Fahrgastzahlen im öffentlichen Personennahverkehr zu verdoppeln, trage die Kombilösung nichts bei. „Der Tunnel hilft nicht, die Kapazitäten zu erhöhen“, sagt er. Die Stadtverwaltung verweist hingegen auf eine ausgeschöpfte Leistungsgrenze vor dem Umbau. „Der Mehrwert der Kombilösung lässt sich nicht rein an der Zahl der noch möglichen Linien festmachen: Kürzere Reisezeiten und ein deutlich geringeres Risiko für Verspätungen steigern die Attraktivität“, heißt es auf Anfrage.
„Die große Aufgabe steht noch bevor“, sagt Tunnel-Befürworter Thomann mit Blick auf die durch digitalisierten Handel und Pandemie herausgeforderte Karlsruher Innenstadt. „Die Stadt muss kreative Konzepte entwickeln, dass mit der Fußgängerzone auch die Menschen zurückkommen.“ Besonders der Einzelhandel hat in den letzten Jahren gelitten. Leerstand und rückläufige Frequenzen machen das sichtbar. Durch die jahrelangen Baustellen für die Kombilösung sahen sich viele Karlsruher Einzelhändler zusätzlich getroffen. 13 Millionen Euro Entschädigung zahlte die Stadt dafür vor allem an Gewerbetreibende in der City. Der Freiraum durch die schienenfreie Kaiserstraße komme gerade zur richtigen Zeit, meint auch OB Mentrup. Er solle helfen, wieder Kultur in der Innenstadt anzusiedeln, zudem will der Oberbürgermeister das Wohnen in der City stärker ermöglichen. Harry Block dagegen bezweifelt, dass die Kommune noch über ausreichend finanzielle Mittel verfügt, um die nötige Umgestaltung sinnvoll anzugehen. Als eine der ersten Maßnahmen soll ein neues Pflaster die Schienen ersetzen. Bis zu 30 Millionen Euro lässt sich die Stadt den Natursteinbelag kosten. Kritiker sehen darin eine „Vergoldung der Kaiserstraße“ und fordern eine Konzentration auf mehr Bäume und Sitzmöglichkeiten in der Stadt.
„Bei voller Belastung der U-Bahn werden sich die Probleme zeigen, den Vollbetrieb haben wir im Augenblick noch nicht“, sieht der Ex-Gemeinderat Block aber den echten Härtetest durch die pandemiebedingt niedrige Auslastung noch ausstehend. Dabei gab es schon im Vorfeld einige Pannen. Wie in Stuttgart, nur in kleinerem Maßstab. Der Karlsruher Untergrund, der eigentlich ein unproblematisches Kies-Sand-Gemisch sein sollte, war doch anderer Art. Unter einem Kaufhaus wurde eine Stützmauer entdeckt, von der zuvor keiner gewusst hatte; die musste abgesichert werden. Dann hatte sich die Tunnelbohrmaschine festgefressen. Im Juni 2020 fluteten etwa 200.000 Liter Wasser den Tunnel, liefen in Technikräume und Kabelkanäle, schuld war ein Schaden an einer Bauwasserleitung. Kurz nach Inbetriebnahme gab es auch schon das erste Problem: Stromausfall und damit 20 Minuten Stillstand im neuen Tunnel. Ein paar Tage später löste erhöhte Temperatur an der Oberleitung Brandalarm aus. Die Feuerwehr kam, eine Haltestelle musste evakuiert werden. Nach den Auslösern wird in beiden Fällen noch gesucht.
Ganz fertig ist die Kombilösung in Karlsruhe noch nicht. Wegen Materialmangel wird die Fertigstellung des Autotunnels in der Kriegsstraße noch bis mindestens März dauern. Für Mentrup steht derweil schon fest: „Die Menschen freuen sich über ihre neue City.“ Block und Jacobs haben die neue Untergrundbahn dagegen noch nicht genutzt. „Kein Bedarf“, sagen sie. Doch auch sie glauben, dass sich die KarlsruherInnen mit der unterirdischen Bahn arrangieren. „So isch’s gworre“, heißt es in Karlsruhe. Und eines dürfte einige über die Verzögerungen und Kostenerhöhungen hinwegtrösten: Der unterirdische Verkehr rollt in der ehemaligen badischen Hauptstadt deutlich früher als in Stuttgart an.