In Deutschland ist fast jeder zweite Jugendliche oder Erwachsene Mitglied mindestens eines Vereins. Viele dieser Vereine sind als anerkannte, gemeinnützige Körperschaften steuerlich und finanziell privilegiert, um ihre Arbeit für die Allgemeinheit gesellschaftlich anzuerkennen und zu unterstützen. Doch ein Urteil des Bundefinanzhofs aus dem Februar 2019 zog den Rahmen für eine gemeinnützige Tätigkeit wesentlich enger und sorgt für große Unsicherheit.
Attac-Urteil schränkt politische Beteiligungsmöglichkeiten stark ein
Im sogenannten ‚Attac-Urteil‘ entschied der Bundesfinanzhof nach einer mehrjährigen rechtlichen Auseinandersetzung, dass dem globalisierungskritischen Netzwerk die Gemeinnützigkeit zu entziehen sei. Attac berief sich in seiner Arbeit unter anderem auf die Förderung der ‚Volksbildung‘, die als ein gemeinnütziger Zweck in der Abgabenordnung aufgeführt ist. Der Bundesfinanzhof bemängelte jedoch, dass es Attac in seiner politischen Bildungsarbeit an „geistiger Offenheit“ fehle. Zwar sei es mit der Gemeinnützigkeit vereinbar, dass politische Forderungen entwickelt würden, diese als Verein öffentlich zu äußern und damit die politische Willensbildung zu beeinflussen allerdings nicht. Außer die Forderungen könnten explizit einem der in der Abgabenordnung aufgeführten Zwecke zugeordnet werden. Nach dieser engen Rechtsauffassung des Bundesfinanzhofs hätte Attac in der Öffentlichkeit höchstens für bildungspolitische Forderungen, nicht aber für die Regulierung der Finanzmärkte, die Einführung der Tobin-Tax, oder eine Reform bzw. Wiedereinführung von Erbschafts- und Vermögenssteuer werben dürfen.
Nicht nur politische Vereine betroffen
Die mit der Prüfung beauftragten Finanzämter sind an die Entscheidung des Finanzhofs gebunden. So verlor die Kampagnenorganisation Campact im Oktober 2019 ihren Status als gemeinnützige Organisation. Campact sei überwiegend allgemeinpolitisch tätig gewesen und habe Kampagnen zu Themen durchgeführt, die keinem gemeinnützigen Zweck der Abgabenordnung zugeordnet werden könnten, so das zuständige Finanzamt Berlin. Doch auch die Grenzen der aufgelisteten Zwecke können in der jetzigen Rechtslage schnell überschritten werden. Dies bekam ein unter anderem zum Zwecke der Hilfe für politisch Verfolgte und der Entwicklungszusammenarbeit als Gemeinnützig anerkannter Verein zu spüren, der in Zusammenarbeit mit lokalen Initiativen über viele Jahre den Wiederaufbau der Infrastruktur und Versorgung in einem Kriegsgebiet unterstützte. Das zuständige Finanzamt warf dem Verein bei einer Überprüfung vor, auch politische Gruppen zu unterstützen, die einen Rechtsstaat und die Absetzung des Diktators forderten. Das Finanzamt sah darin eine Übertretung der in der Abgabenordnung genannten Zwecke. Erst nach mehrmonatiger Auseinandersetzung erkannte das Finanzamt dem Verein seine Gemeinnützigkeit wieder zu.
Noch mitten in einer solchen Auseinandersetzung steckt der ehrenamtlicher Kulturverein DemoZ, der in Ludwigsburg ein soziokulturelles Zentrum betreibt und seit vielen Jahren für die Förderung der Bildung und Kultur als gemeinnützig anerkannt war. Das zuständige Finanzamt entzog dem kleinen Verein im Oktober mit ausdrücklichem Bezug auf das ‚Attac-Urteil‘ die Gemeinnützigkeit. Der Vorwurf, der Verein hätte eine politische Haltung und setze sich für eine hierarchiefreie Gesellschaft ein. Aufgrund der eigenen Haltung müsse davon ausgegangen werden, dass er mit seinen Bildungs- und Kulturveranstaltungen die öffentliche Meinung ohne die nötige „geistigen Offenheit“ beeinflusse.
Entzug der Gemeinnützigkeit gefährdet Existenz
Bundesweit müssen politische, kulturelle und andere Organisationen nun ein ähnliches Schicksal fürchten. Mit dem Entzug der Gemeinnützigkeit drohen erhebliche Einnahmeverluste, da Spenden an sie nicht mehr steuerlich absetzbar wären und Fördermittel in der Regel an den gemeinnützigen Status gekoppelt sind. Zudem droht rückwirkend eine Besteuerung vergangener Einnahmen. Dies bedroht die Organisationen in ihrer Existenz. Allein Campact sieht sich nach der Entscheidung des Finanzamts Berlin mit einer Forderung von etwa 300.000 Euro für die Nachzahlung von Schenkungssteuern konfrontiert.
Doch die Unsicherheit und fehlende gesetzliche Klarstellung schränken auch die Arbeit der noch als gemeinnützig anerkannten Vereine ein. Es müssen Notfallpläne entwickelt werden und den zuständigen Finanzämtern mit viel Aufwand die eigene Arbeit dargestellt werden. In größeren Vereinen arbeiten daran Vollzeitstellen. Die Arbeit in kleineren oder rein ehrenamtlichen Vereinen wird in noch größerem Ausmaß gelähmt. Nachfragen oder Prüfungen der Finanzämter nach dem Attac-Urteil beschäftigen die Vorstände und Freiwilligen nahezu vollständig. Doch auch Vereine, die noch nicht von einer Prüfung betroffen sind, beschäftigt die Unsicherheit. Können die über lange Jahre durchgeführten Veranstaltungen und Kooperationen noch durchgeführt werden, ohne die eigene Existenz zu gefährden?
Gefahr für kulturelle Vereine
Im kulturellen Bereich sind vor allem soziokulturelle Zentren bedroht. Diese Zentren in freier Trägerschaft wollen mit Kunst, Musik oder Theater die aktive Teilhabe an Gesellschaft, Kultur und Politik fördern. In soziokulturellen Zentren sollen demokratisches Miteinander direkt erlebbar gemacht und aktuelle gesellschaftspolitische Themen vorangetrieben werden. Diese „Kultur von unten“ entspricht nicht dem Geschmack aller. Erst im letzten Jahr versuchte die AfD-Landtagsfraktion Baden-Württemberg mit einer kleinen Anfrage „quasikorporatistische Strukturen“ zwischen der Landesregierung und den soziokulturellen Zentren zu konstruieren, nachdem ihr Dachverband LAKS sich im Wahlaufrufruf gegen Rechtspopulismus positionierte. Auch in anderen Bundesländern sorgte sich die AfD um die „konkreten Aktivitäten zur Förderung deutschen Kulturgutes“ in soziokulturellen Zentren und zielte nicht nur auf ein vermeintliches Zuviel an Internationalität und Vielfalt, sondern vor allem auf die öffentliche Förderung dieser Zentren. Bereits 2017 versuchte die AfD mit einer Anzeige gegen Campact beim Finanzamt deren Gemeinnützigkeit entziehen zu lassen. Sie sah sich von einer Kampagne zur Bundestagswahl angegriffen. Auch der Deutschen Umwelthilfe sollte nach dem Willen der AfD-Fraktion in Baden-Württemberg die Gemeinnützigkeit entzogen werden. Durch seine Aktivitäten im Diesel-Skandal zeige der Verein, dass er „eine stolze Volkswirtschaft ins Wanken bringen kann“. Später forderte auch ein CDU-Bundesparteitag der Deutschen Umwelthilfe staatliche Mittel zu streichen und ihre Gemeinnützigkeit zu prüfen.
Auf solche politischen Kampagnen können die in der Regel gemeinnützigen, freien Kulturträger in der bestehenden Rechtslage kaum reagieren. Jede Stellungnahme, jeder Aufruf zur Demonstration kann als zu allgemeinpolitisch ausgelegt werden. Auch die Unterstützung von gesellschaftlichen Initiativen aus dem Aktivenkreis der Zentren könnte als Versuch der politischen Einflussnahme gewertet werden. Die enge Auslegung der Bundesfinanzhof-Entscheidung zur Teilhabe gemeinnütziger Vereine an der politischen Willensbildung gefährdet das Grundprinzip der vielfältigen soziokulturellen Zentren bundesweit.
Was ist zu tun?
Die aktuelle Rechtslage und -unsicherheit gefährdet die Beteiligung der Zivilgesellschaft insgesamt. Dabei sind es gerade diese Organisationen, die die Zivilgesellschaft und ihre Forderungen und Interessen vertreten und es in der Vertretung gesellschaftlicher Interessen auch mit finanziell weitaus besser ausgestatteten Organisationen und Lobbys aufnehmen.
Um die demokratische Teilhabe zu sichern, ist der Gesetzgeber dringend gefordert. In der aktuellen Situation entscheiden Finanzämter darüber, welche politischen Forderungen gemeinnützige Organisationen noch erheben dürfen. Um diesen Zustand zu beenden, muss im ersten Schritt der Katalog der gemeinnützigen Zwecke in der Abgabenordnung endlich reformiert und erweitert werden. Hier fehlen grundlegende Zwecke, die der Allgemeinheit zu Gute kommen. Zu nennen sind hier u.a. die Förderung von Grundrechten, Frieden, sozialer Gerechtigkeit, Klimaschutz, informationeller Selbstbestimmung, Menschenrechten und der Gleichstellung der Geschlechter. Um der gesellschaftlichen Dynamik gerecht zu werden, braucht es langfristig ein an wesentlichen Funktionen der Zivilgesellschaft ausgerichtetes Gemeinnützigkeitsrecht und eine Abkehr von einer Auflistung sich wandelnder Themenfelder.
Diese Forderungen werden bislang von politischer Ebene blockiert. Mehr als 120 Organisationen der Zivilgesellschaft haben sich daher in der Allianz „Rechtssicherheit für politische Willensbildung“ zusammengeschlossen, um gemeinsam den Druck zu erhöhen. Doch noch immer gibt es im zuständigen Bundesfinanzministerium kaum Bewegung. Alle Akteure der Zivilgesellschaft sind daher gefordert, den Druck zu erhöhen, wollen sie nicht ihre Stimme und Mitgestaltungsmöglichkeiten in der Gesellschaft verlieren.