Florian Kaufmann

Freier Journalist

Die Autonomie wankt

Der Einmarsch der USA in den Irak vor 20 Jahren brachte die Region nicht zur Ruhe, im Gegenteil. Eine der wenigen Gewinnerinnen damals war die kurdische Autonomieregion im Nordirak. Doch die allgegenwärtige Korruption und Misswirtschaft nutzt heute vor allem reaktionären Kräften.

Irgendwann ist sie verlorengegangen. Die Perspektive und die Hoffnung, dass es besser wird. Vom einstigen Aufbruch ist in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak kaum noch etwas zu spüren. Die US-Invasion in den Irak vor 20 Jahren lässt bis heute viele Verlierer:innen zurück. Sie führte zum Aufstieg des Islamischen Staates (IS) und einem stärkeren iranischen Einfluss in der Region. Dagegen konnten die über Jahrzehnte unterdrückten Kurd:innen zunächst von den Umbrüchen profitieren. Als der Großteil des Iraks im Chaos versank, gewann die kurdische Selbstverwaltung im Nordirak Einfluss, Unabhängigkeit und Wirtschaftskraft. Der Wunsch vieler syrischer Kurd:innen in Rojava nach Autonomie ist im Nachbarstaat Irak lange schon Realität.

Verfolgung der Kurd:innen im Nordirak

Jahrzehntelang litten die Kurd:innen im Irak unter Verfolgung und Unterdrückung. In der von Saddam Hussein befehligten „Anfal-Operation“ wurden Ende der 1980er-Jahre nach UNESCO-Angaben etwa 180.000 Menschen im kurdischen Siedlungsgebiet im Norden des irakischen Staatsgebiets ermordet. Ein Höhepunkt war der Giftgas-Angriff auf Halabja vor 35 Jahren. Dem Gas aus deutscher Produktion fielen etwa 5.000 Menschen zum Opfer. Insgesamt wurden durch die Operation schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen vertrieben und zur Flucht gezwungen. Die westlichen Staaten ignorierten die systematische Unterdrückung lange. Erst als die USA 1991 nach dem irakischen Einmarsch in Kuwait eine Flugverbotszone im Nordirak verhängten, kam die Region zur Ruhe, allerdings litten die Menschen durch die Folgen des ebenfalls verhängten Handelsembargos vielfach Hunger. Mit der Bildung eines Regionalparlaments 1992 wurde eine De-facto-Autonomie erreicht, die 2005 auch in der irakischen Verfassung festgeschrieben wurde. Heute leben über sieben Millionen Menschen in der Autonomen Region.  (kau)

Mit dem Sturz Saddam Husseins begann der schnelle Aufstieg der Region, die in zwei Teile geteilt ist. Im Norden regiert die Demokratische Partei Kurdistans (DPK), im Süden die Patriotische Union Kurdistans (PUK). Die Aufteilung in zwei Gebiete war die diplomatische Lösung des „Kurdischen Bruderkrieges“, in dem sich die beiden Parteien Mitte der 1990er-Jahre eine militärische Auseinandersetzung lieferten. Bis heute prägen zwei Familien die Parteien, die jeweils eigene militärische Einheiten (Peschmerga) und Außenbeziehungen unterhalten. Die Familie Barzani im Norden ist eng mit der Türkei verbunden, während die Familie Talabani und die PUK zum iranischen Einflussgebiet gehören. Checkpoints markieren die Parteigrenzen in der Autonomen Region Kurdistan.

Elite aus zwei Familien

Unter dem Schutz der USA rollte der Kapitalismus im Eiltempo über die einst bäuerlich geprägte Region. Die öffentliche Versorgung wurde weitgehend privatisiert und das schnelle Geld zur Triebfeder der Gesellschaft. In der Hauptstadt Erbil wuchsen die Glasfassaden und Wolkenkratzer in die Höhe, ein zweites Dubai ist das erklärte Ziel der Herrscherfamilie um Masud Barzani. Doch hinter den Fassaden bröckelt auch der gesellschaftliche Kitt. Die Region Kurdistan leidet unter massiver Korruption. Die Öleinnahmen sind faktisch unter der Kontrolle der beiden Familienclans, auch sonst gibt es kaum ein Feld der Wirtschaft, in dem sich die Barzanis, Talabanis und ihr Umfeld nicht beteiligen lassen. Ihr Reichtum wird nur durch weitläufige hohe Mauern versteckt. Auf ihren gigantischen Grundstücken finden sich Golfplätze und andere Annehmlichkeiten der Eliten. Während im Land infolge des Klimawandels das Wasser knapp wird, werden alleine die Gärten der politischen und wirtschaftlichen Oberschicht im Vorort „American Village“ in Erbil im Sommer mit mehr als einer Million Liter pro Tag bewässert.

Überfluss für sehr wenige und Mangel beim großen Rest prägen das Gebiet. Jenseits privater Generatoren gibt es nur stundenweise Strom. Einst exportierte die Region Agrarprodukte, heute ist die Lebensmittelversorgung von Lieferungen aus der Türkei bzw. dem Iran abhängig, und frühere Agrarflächen werden für immer neue Immobilien- und Bauprojekte genutzt, die in der Regel den Reichen vorbehalten sind. Die Armut trifft viele junge Menschen. Nach Angaben der International Labour Union (ILO) ist jede:r dritte von ihnen arbeitslos, betroffen sind vor allem Frauen. Von den Beschäftigten sind die meisten im Staatsdienst tätig. Doch trotz sprudelnder Öleinnahmen zahlt die Autonomieregion die Gehälter häufig verspätet oder auch gar nicht. In Sulaimani sind tausende Menschen von den täglichen Essensausgaben an der Moschee abhängig, ein krankes Kind kann schnell den Ruin bedeuten. In der Gesellschaft regiert die Hoffnungslosigkeit. „Saddam war ein Diktator, aber die heutigen Politiker sind schlimmer“, sagt ein Peschmerga, der einst in den kurdischen Bergen gegen die irakischen Truppen kämpfte.

Junge Künstlerin kämpft für Freiheit

„Alle jungen Menschen, alle meine Freund:innen wollen nur weg“, sagt Tara Abdulla, eine junge Künstlerin aus Sulaimani. „Die regierenden Parteien haben es geschafft, die jungen Menschen zu entkräften und eine große Lethargie zu verbreiten.“ Abdulla ist in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme. Sie wolle sich nicht vertreiben lassen und für ihre und die Freiheit aller Frauen kämpfen. In ihrer bekanntesten Aktion hängte sie 2018 auf fast fünf Kilometern in der Innenstadt Sulaimanis Kleidungsstücke von fast 100.000 Frauen auf, die Opfer von familiärer Gewalt und Femiziden wurden. Die Familien der Opfer stellten die Kleidung als stumme Zeugen für das Leiden und den Verlust dieser Frauen zur Verfügung. Zuletzt installierte sie in vier Städten Lautsprecher und gab der Wut über die Unterdrückung der Frauen im Nordirak ihre Stimme.

Ihre Aktionen stoßen auf großes öffentliches Interesse und vielfach auf erbitterte Ablehnung. Islamistische Gruppen feierten sich mit Videos, die zeigen, wie sie die Kleidungsstücke der getöteten Frauen verbrannt und einige Lautsprecher zerstört haben. Nach ihren Aktionen erhält Abdulla regelmäßig Todesdrohungen und neben Anerkennung auch wütende Nachrichten von anderen Frauen, die ihr Missachtung der Religion vorwerfen. In ihrer eigenen Familie sei sie ein „schwarzes Schaf“. Ihre Mutter erinnere sie regelmäßig daran, dass sie lieber einen Jungen gehabt hätte. Vom Vater gibt es Schläge. „Aber ich habe dabei noch nie geweint“, sagt Abdulla. Bei ihren Aktionen ist sie zumeist auf sich alleine gestellt. „Die einen wollen Geld für das Mitmachen, andere haben Angst vor den Konsequenzen.“ Selbst von ihren Freund:innen bekomme sie regelmäßig einen Satz zu hören: „Wenn ich so aktiv wäre wie du, hätte ich schon lange einen Asylantrag in Deutschland gestellt.“ Für Abdulla kommt das nicht in Frage. „Ich mag mich selbst so sehr. Ich will mich nicht vertreiben lassen, hier für meine Freiheit kämpfen.“

Gesellschaftliche Rückwärtsbewegung

Den wachsenden Einfluss des Islams in der kurdischen Autonomieregion bekam auch die Gender-Wissenschaftlerin und Frauenrechtlerin Choman Hardi zu spüren. Als in Sulaimani mehrere LGBTQ-Aktivist:innen festgenommen wurden, meldete sich die 49-Jährige in den sozialen Medien zu Wort. Islamistische Gruppen sahen darin zu viel Solidarität mit im Koran nicht vorgesehenen Menschen. Der folgende Shitstorm und Drohungen zwangen Hardi zur Flucht. Dabei wurde ihr auch vorgeworfen, sich an einem wissenschaftlichen EU-Projekt bereichert zu haben. Trotz des großen Drucks auf die Wissenschaftlerin lehnte die EU-Kommission ihre Bitte ab: klarzustellen, dass das Fördergeld nur an ihre Universität und nicht an sie persönlich ging. „Es war ein orchestrierter Shitstorm, eine Hexenjagd. Die Islamisten hier sind gut organisiert und haben in den vergangenen 30 Jahren die Institutionen infiltriert.“

Auch im lange liberalen Sulaimani zeigt sich die wachsende Macht religiöser Kräfte. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion ließ der Vorsitzende der PUK, Bafel Talabani, unter dem Jubel der Islamisten alle Nachtclubs im Ausgehviertel Sarchinar schließen. Der islamistische Einfluss wächst auch innerhalb der PUK. Die Islamisten würden zum Gegenschlag ausholen und gesellschaftliche Errungenschaften für Frauen zurückdrehen wollen, sagt Hardi. 2011 wurde Vergewaltigung in der Ehe und die weibliche Genitalverstümmelung (FGM) strafbar – salafistischen Gruppen sei dies schon lange ein Dorn im Auge. Hardi geht davon aus, dass diese Gruppen mit Geld aus Katar, Saudi-Arabien und von der Muslimbruderschaft unterstützt werden. „In einer Region, in der Schulen, Kindergärten, Spielplätze und Straßen fehlen, wurden allein in den vergangenen 20 Jahren 5.000 Moscheen gebaut.“

Doch auch Hardi will sich nicht unterkriegen lassen. Sie ist nach Sulaimani zurückgekehrt und hat neben ihrem Haus eine Veranstaltungshalle und eine Residenz für Künstler:innen gebaut, die auch als Safe Space für Frauen zur Verfügung stehen soll. „Wir haben alles investiert, was wir haben“, sagt Hardi, die das Projekt mit ihrem Mann aufgebaut hat. Die Entwicklung in Kurdistan sei ein politisches, wirtschaftliches und kulturelles Desaster. „Die Gesellschaft ist voll von Ungleichheit. Kreativität und Kunst bieten die Möglichkeit zur Flucht aus der Realität.“

Labile Eigenständigkeit

Mitten in der Stadt gibt es einen weiteren Ort, der für Aufbruch stehen könnte. Auf dem Gelände einer ehemaligen Tabakfabrik wurde vor drei Jahren ein Zentrum für Kunst, Kultur, Sport und Wirtschaft aufgebaut. Werkstätten, Ateliers, Theater, Kursangebote und Diskussionsräume sollen den Menschen zur Verfügung stehen. Inspiriert wurde die Idee aus Europa, sagt Khabat Marouf, der lange in Wien lebte und dort das Werkstätten- und Kulturhaus (WUK) schätzen lernte. „Wir wollen Menschen animieren, etwas zu tun.“ Seit knapp einem Jahr seien alle renovierten Räume in zwei Gebäuden vergeben. Allein ein Gebäude umfasst 12.000 Quadratmeter. Die Gruppen zahlten nur die Betriebskosten, die vielen noch unrenovierten Hallen könnten kostenlos für Theater- oder Filmproduktionen genutzt werden, erzählt Marouf.

Doch es gibt viele, die das riesige Gelände am Rande der zentralen Straße Sulaimanis besser für weitere Malls, Hotels und andere kurzfristig lukrative Bauprojekte genutzt sähen. Seit 2011 kämpfte Marouf mit seinen guten Kontakten in die Politik für die heutige Nutzung. „Das Gebäude sollte abgerissen werden, aber wir wollten es halten. Es konnte noch gut genutzt werden.“ An seiner Seite stand Hero Talabani, die Frau des früheren irakischen Staatspräsidenten, mit deren Unterstützung das Grundstück aus dem Eigentum des Wirtschafts- in die Hände des Kulturministeriums wechselte. Damit es in der ehemaligen Tabakfabrik friedlich bleibt, hat Marouf eine klare Regel für die Raumvergabe ausgegeben: „Keine Parteien, keine Religion, sonst kommen andere nicht mehr.“

Trotz der kleinen Inseln der Hoffnung ist bei vielen irakischen Kurd:innen die Resignation inzwischen so groß, dass sie sich aus der Autonomie wieder in die Kontrolle der irakischen Zentralregierung wünschen. Zugleich nimmt der internationale Druck auf die Autonomieregierung zu. Erstmals formulierte das US-Außenministerium in einem Bericht zur Lage der Menschenrechte im vergangenen Monat harte, öffentliche Kritik an der herrschenden Korruption und politischen Verfolgung von Journalist:innen und Oppositionellen. Die langjährige Schutzmacht fordert eindringlich ein Ende der Zweistaaterei. Zudem hat ein Internationales Schiedsgericht in Paris Ende März den illegalen Öllieferungen aus der Autonomieregion in die Türkei ein Ende gemacht. Die Türkei hat umgehend angekündigt, ihr Öl künftig nur noch von der irakischen Zentralregierung und damit vorbei an den Taschen der kurdischen Elite zu beziehen. Die fällige Strafzahlung in Milliardenhöhe für die Öllieferungen der Vergangenheit, die die Türkei für die nunmehr illegalen Öltransporte an die irakische Zentralregierung zahlen muss, fordert Erdogan wiederum von der kurdischen Autonomieregion ein. So steigt zur wachsenden Spaltung im Inneren auch die Intensität der Konflikte nach außen. Der kurdischen Autonomieregion könnte nicht nur der gesellschaftliche, sondern auch der finanzielle Kollaps drohen.

Kontext-Wochenzeitung