Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens schreitet voran. Seit es in den 1980ern möglich wurde, dass Krankenhäuser Gewinne erzielen, wird der Markt mit der Gesundheit immer attraktiver für weltweit mäanderndes Kapital. Auch in Baden-Württemberg wandern viele Kliniken und Praxen in die Hände von Großinvestoren.
Kurze Wege zur nächsten Behandlung durch verschiedene Ärzt:innen unter einem Dach. In der DDR war dieses Konzept als Poliklinik mit mindestens vier verschiedenen medizinischen Fachbereichen die gängigste Art ärztlicher Versorgung. Nach dem Fall der Mauer verloren die Polikliniken bis 1995 nach und nach ihre Zulassung. Auch weil damals alles, was aus der DDR stammte, schon alleine deswegen abgelehnt wurde, wollte die damalige Bundesregierung unter Helmut Kohl die Versorgung auch in den neuen Bundesländern „schrittweise in Richtung des Versorgungsangebotes der Bundesrepublik Deutschland mit privaten Leistungserbringern“ verändern. Doch als 2004 die Sorgen um eine flächendeckende medizinische Versorgung wuchsen, wurde die Idee der Polikliniken von der damaligen rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder als „Medizinische Versorgungszentren (MVZ)“ reaktiviert. Mit fachübergreifenden Gemeinschaftspraxen sollte die ärztliche Versorgung auch an weniger bevölkerten Orten gesichert werden. Aber die bundesdeutsche Politik setzte dabei auch im Kabinett von Angela Merkel im Gegensatz zu den Polikliniken voll auf die Privatisierung.
Das Ergebnis: Während die Zahl der Arztpraxen insgesamt bundesweit rückläufig ist, steigt die Anzahl der MVZ seit Jahren. In Baden-Württemberg hat sich ihre Zahl seit 2015 von 135 auf 305 Zentren erhöht und damit mehr als verdoppelt. Zu kurzen Wegen und einer flächendeckenden Versorgung tragen die MVZ allerdings kaum bei. Die Gründungswelle neuer MVZ ist vor allem durch Finanzinvestoren getrieben, die auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten in den letzten Jahren immer stärker den Gesundheitsmarkt suchen. „Analysen zeigen, dass sich investorengetragene MVZ vermehrt in Ballungsgebieten etablieren und vornehmlich wirtschaftlich besonders lukrative und skalierbare Leistungsbestandteile anbieten“, berichtet daher das Landesgesundheitsministerium auf Kontext-Anfrage.
Praxenketten internationaler Finanzkonsortien
Eine dieser Private-Equity Investoren ist die Schweizer Ufenau Capital Partners AG, die ihren Anleger:innen Investitionen in Wachstumsmärkte verspricht. Seit 2017 finanziert sie das Wachstum der Corius-Gruppe, die nach eigenen Angaben an 32 Standorten bundesweit Hautarztpraxen und MVZ betreibt. In Baden-Württemberg ist Corius mit Hautzentren und -praxen in Biberach, Reutlingen, Schwäbisch Gmünd und Stuttgart vertreten. Auf dem Markt der Dermatologie konkurrieren sie dabei mit einem anderen Finanzinvestor: Die Frankfurter Investorengruppe Halder GmbH verspricht eine gute Rendite durch die „Übernahme rentabler Unternehmen“ und hat seit Anfang 2022 im Dermazentrum Freiburg investiert, eine von zwölf Halder-Praxen bundesweit. Gewinnträchtig scheint dabei besonders das Angebot der ästhetischen Dermatologie, also Schönheitschirurgie.
Finanzinvestoren geben ihr Geld nicht nur in MVZ, sondern bauen auch selbst Arztketten auf. Besonders beliebt sind Augenarztpraxen. 500 solcher Filialketten unter Regie internationaler Finanzunternehmen soll es in diesem Bereich bundesweit geben. Allein die deutsch-schweizerische Kette Sanoptis unterhält in Mannheim sechs Augenarztpraxen. Erst im Mai dieses Jahres wanderte Sanoptis von einem Finanzinvestor zum nächsten. Das belgische Investmenthaus Groupe Bruxelles Lambert versprach beim Kauf weitere 750 Millionen Euro für weitere Aufkäufe und Investitionen. Auf frisches Geld hofft auch die bereits durch die Hände mehrerer Finanzinvestoren transferierte Ober Scharrer Gruppe. Im Frühjahr stiegen ein kanadischer Pensionsfonds und ein französisches Beteiligungshaus bei einer der größten Augenarztketten Deutschlands ein, die in Baden-Baden, Bühl und Offenburg sechs MVZ oder private Augenarztpraxen betreibt. Für die Beliebtheit dieses Medizinbereichs ist auch die gute Möglichkeit für private Zusatzleistungen verantwortlich. So werden Patienten spezielle Untersuchungen verkauft.
Privatisierung erhöht die Kosten
Die wachsende Verbreitung von MVZ trifft auf Kritik der großen Ärzteverbände. Die Vertretung der baden-württembergischen Ärzte sieht „die ärztliche Freiberuflichkeit im ambulanten Versorgungsbereich dadurch in hohem Maße bedroht“. Die Ärzte forderten bereits 2019 die politischen Verantwortlichen zu Maßnahmen auf, die verhindern, dass „renditeorientierte Finanzinvestoren ohne originäres Versorgungsinteresse ein MVZ gründen und in die ambulante Versorgung eindringen“. Zusätzlichen Nachdruck erhielt die Forderung durch ein Gutachten im Auftrag der kassenärztlichen Vereinigung Bayern im Frühjahr dieses Jahres. Demnach ließen sich MVZ ihre Leistung von den Kassen um 5,7 Prozent höher honorieren als es bei gleicher Patientencharakteristik, gleichen Vorerkrankungen und gleichem Behandlungsanlass in Einzelpraxen zu erwarten gewesen wäre. Sprich: In den besagten MVZ wird offenbar mehr therapiert. Zudem rechneten investorengeführte MVZ für gleiche Leistungen sogar 10,4 Prozent mehr ab. Auch das Landesgesundheitsministerium stellt daher fest: „Die von Investoren betriebenen MVZ dienen vorrangig den Interessen der Kapitalanleger. Durch Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge werden solche Interessen regelmäßig bis auf Versorgungsebene im MVZ durchgesetzt.“
Trotz der größtenteils einhelligen Kritik an der in erster Linie an ökonomischen Motiven ausgerichteten Versorgung in MVZ zeigten politische Maßnahmen bislang kaum Wirkung. 2012 verbot der Gesetzgeber zwar Aktiengesellschaften die Gründung von MVZ und beschränkte die Berechtigung auf bestimmte Rechtsformen. Die internationalen Finanzinvestoren reagierten jedoch umgehend. Vielfach kauften sie ganze Krankenhäuser, aus denen sich weiterhin neue MVZ gründen ließen. So übernahm im vergangenen Jahr die unter anderem von englischen und israelischen Investmentgesellschaften finanzierte Patient 21 GmbH das Heidelberger Krankenhaus Sankt Elisabeth. Auch die Gefäßklinik Dr. Berg GmbH in Blaustein bei Ulm ist in Händen eines investorenfinanzierten Startups und versucht daraus unter anderem in Stuttgart neue MVZ aufzubauen. „Finanzinvestoren verschaffen sich unter anderem über den Erwerb eines Krankenhauses die Berechtigung, bundesweit MVZ-Standorte zu gründen oder aufzukaufen“, heißt es vom Landesgesundheitsministerium. Ziel seien vor allem kleine, finanziell schlecht aufgestellte Kliniken.
Konzentration auf lukrative Märkte
Eine der Kliniken, die bei der Eröffnung neuer MVZ auf die Finanzierung durch Finanzinvestoren setzte, ist die Acura Fachklinik in Albstadt. Die Investcorp aus Bahrain investierte in die Klinik und sieht darin einen „idealen Ausgangspunkt“, um eine von MVZ getragene Kette von Zahnarztpraxen aufzubauen. Der deutsche, „stark fragmentierte Dentalmarkt“ sei dafür sehr interessant, lässt sich der Chef der Investmentgesellschaft Investcorp, Mohammed Al Shroogi, zitieren. „Die Klinik litt unter einem erheblichen Investitionsstau“, begründet die Klinik-Geschäftsführerin Anthea Mayer gegenüber Kontext die Zusammenarbeit mit den Finanzinvestoren aus Bahrain. Die Leistungen sowie auch die wirtschaftliche Lage seien dadurch heute besser als je zuvor. Die Renditeerwartung habe „keinen Einfluss auf die Entscheidung, wer wie behandelt und beraten wird“, sagt Mayer. Auch die Waiblinger Zentralklinik und die schon erwähnte Klinik St. Elisabeth in Heidelberg betreiben gemeinsame zahnärztliche MVZ mit Finanzinvestoren. Die Kontext-Anfragen dazu blieben durch die Kliniken und die beteiligten Finanzinvestoren bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Das Wachstum der MVZ sei nicht grundsätzlich negativ, sagt Kai Sonntag von der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg. Gerade junge Ärzt:innen schätzten die Möglichkeit im Angestelltenverhältnis und in Teilzeit zu arbeiten. „Problematisch sind aus unserer Sicht MVZ, wenn die Interessenlage dahinter nicht mehr klar ist.“ Zu große Marktmacht und Kapitalinteressen könnten die Versorgung gefährden. „Darüber hinaus kritisieren wir, wenn sich ein MVZ nur auf einen kleinen, vermeintlich lukrativen Teilbereich der Versorgung konzentriert“, sagt Sonntag.
Versorgungszentren folgen hohen Einkommen
„Der Grundtrend ist eine weitere Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung“, sagt Thomas Böhm von der Gewerkschaft Verdi. Er kritisiert an investorengeführten MVZ, dass „Gelder der Beitragszahler nicht für die Gesundheitsversorgung ausgegeben werden, sondern in die Taschen von Investoren und Aktionären wandern“. Während der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) eine Erhöhung der Krankenkassenbeiträge durchsetzen will, ziehen internationale Finanzinvestoren aus dem deutschen Gesundheitssystem eine ordentliche Rendite. Durch das mit der Ökonomisierung einhergehende Kostendumping fürchtet die Gewerkschaft eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Zudem könne das Wachstum der MVZ zu „Leistungsausdehnungen und damit Überversorgung führen, weil der Gewinn höher ist, je mehr Patienten man behandelt und je mehr Leistungen man abrechnet“, sagt Böhm. Ob also das Auge gelasert oder im Zahn gebohrt wird, wird zum Ergebnis ökonomischer Überlegungen und nicht medizinischer Notwendigkeiten.
Ein Ende der Übernahmewelle durch internationales Kapital ist vorerst nicht absehbar. Alle genannten Ketten suchen aktiv nach weiteren Praxen, bieten sich niedergelassenen Ärzt:innen als Lösung für die Nachfolge an und zahlen dafür viel Geld. Wie groß der Anteil der Finanzinvestoren in der ärztlichen Versorgung schon jetzt ist, lässt sich nicht sagen. Für die Öffentlichkeit ist nicht ersichtlich, wem die Praxen und Versorgungszentren gehören. Nicht nur die Kassenärztliche Vereinigung fordert daher mehr Transparenz. Doch schon heute zeigt der Blick auf die geographische Verteilung der MVZ, dass nicht die breite Versorgung der Bevölkerung, sondern finanzielle Interessen das Wachstum befördern. Die MVZ siedeln sich vor allem dort an, wo die Einkommen hoch sind und die Medizinbereiche hohe Renditen versprechen.
Im Bundesgesundheitsministerium sind keine Aktivitäten zu beobachten, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Das Landesgesundheitsministerium unter Manfred Lucha (Grüne) beteiligt sich an einer länderübergreifenden Arbeitsgruppe, um das Problem zu besprechen. Schnelle Lösungen zum Wohle der Patient:innen sind nicht zu erwarten.