Florian Kaufmann

Freier Journalist

Wenn Dörfer verschwinden

Es ist ihr Schulterzucken, das den Ernst der Lage deutlich macht. Mit der fast beiläufigen Geste antworten die drei Nachbarinnen und Nachbarn auf die Frage, wo sie und ihre Familien in den nächsten Monaten etwas zu Essen herbekommen. Die Mais und Bohnenpflanzen auf ihren Feldern müssten längst üppige Früchte tragen. Aber dort, wo überhaupt etwas Grün zu sehen ist, sind es nur mickrig gebliebene Setzlinge.

„Nirgends“, schiebt Theoneste Barasebwa dem Schulterzucken hinterher, und Cecile und JeanClaude nicken. Die Getreidereserven der Regierung seien durch die Folgen der Pandemie aufgebraucht, die Lebensmittelpreise durch die Ernteausfälle stellenweise um das Fünffache gestiegen. Zum Glück bekämen die Kinder täglich eine Mahlzeit in der Schule. Aber jenseits davon gehe es allen hier genauso wie ihnen. Daher könne man sich auch untereinander kaum helfen. Hier, im Bezirk Bugesera im Südosten von Ruanda, ist in dieser Regenzeit nur ein Bruchteil des Niederschlags gefallen, der normalerweise in diesen tropischen Breiten fallen müsste. Gouverneur Emmanuel Gasana rechnet damit, dass in rund zwei Dritteln der Verwaltungsbezirke der Provinz Menschen hungern werden.

Mehr als die Hälfte der Bevölkerung von Ruanda lebt hauptsächlich von Subsistenzlandwirtschaft. Ihr Leben hängt davon ab, dass im richtigen Zeitraum die richtige Menge Regen fällt. Laut Global Hunger Index, der die Gefährdung der Bevölkerung durch Unterernährung erfasst, hat sich die Versorgungssituation in Ruanda zwar zwischen 2000 und 2016 deutlich verbessert. Doch die Klimaveränderungen drohen diese Erfolge zunichtezumachen. Seit 1990 weichen die Niederschlagsmengen deutlich vom langjährigen Durchschnitt ab, und die Durchschnittstemperaturen steigen konstant. 2016 und 2018 flüchteten Zehntausende Menschen in Ruanda nach einer kurzen Regenzeit vor der Dürre. Der Großteil blieb innerhalb des Landes. Auch in diesem Jahr steigt die Angst.

„Alle Probleme hier drehen sich im weitesten Sinne um Wasser“

Die einen fliehen oder werden zwangsweise umgesiedelt, weil die Klimakrise ihr Zuhause lebensfeindlich macht. Und man kann sagen: Dass sie ihr Zuhause verlieren, hängt auch damit zusammen, dass andere gehen mussten, in Deutschland. Gehen, um dem Kohleabbau Platz zu machen.

Studien der Vereinten Nationen und der nationalen Regierung von Ruanda zeigen deutlich, wie sich der Regen verändert: Teils bleibt er aus, in anderen Jahren fällt überdurchschnittlich viel, und die Regenzeiten werden kürzer. Aber das seien nicht die einzigen Probleme, sagt Abias Maniragaba, der für das „Rwanda Climate Change and Development Network“ die Folgen des Klimawandels erforscht. Im Süden und Osten ist der Wasserstand von Seen stark gesunken, und wegen der gestiegenen Temperaturen breitet sich eine Algenplage aus, die nicht nur die Binnengewässer bedroht, sondern auch Reisfelder zerstört. Im bergigen, kühleren Norden häufen sich MalariaFälle, obwohl diese Infektionskrankheit dort bisher nicht vorkam.

„Alle Probleme hier drehen sich im weitesten Sinne um Wasser“, sagt Juliet Kabera, Leiterin der ruandischen Umweltbehörde REMA. Regnet es nicht oder verschieben sich die Regenzeiten, fallen Ernten aus. Regnet es dagegen zu viel, werden Flusstäler überschwemmt, oder Hänge rutschen ab. Im Jahr 2018, aus dem die aktuellsten Zahlen vorliegen, wurden so über 5000 Häuser zerstört und Zehntausende Hektar Ackerland unbrauchbar. Mehr als 600 Menschen starben durch Erdrutsche oder wurden schwer verletzt.

Eine Ursache dieser Katastrophen ist die Erosion von Böden durch die jahrzehntelange Abholzung der Wälder. Während des dreimonatigen Genozids von 1994, bei dem rund eine Million Menschen getötet wurden, sind auch unzählige private und öffentliche Gebäude zerstört worden. Um das Zerstörte schnell wieder aufzubauen, war Holz der wichtigste Baustoff. In einigen Regionen wie etwa in Bugesera wurde dafür fast der gesamte Wald abgeholzt, sodass es dort vor 20 Jahren „wie in einer Wüste aussah“, wie Bewohner erzählen. Holz soll deshalb als Baustoff ersetzt werden. Das führt dazu, dass Regierungsstellen die Baumaterialien Beton und Stahl in Vorzeigeprojekten als „klimafreundlich“ präsentieren.

Die meisten Häuser sind verlassen, das alte Miteinander ist Geschichte

Eine weitere Ursache für die Entwaldung ist die Art und Weise, wie die Menschen in vielen ländlichen Gebieten kochen. Auf einem offenen Feuer bereiten sie die täglichen Mahlzeiten zu. Eine fünfköpfige Familie braucht dafür im Schnitt zwölf bis 13 Kilogramm Holz am Tag. Nach Daten der nationalen Energiebehörde REG sind mehr als 80 Prozent der Bevölkerung von solchen organischen Brennstoffen abhängig, mehr als fünf Millionen Tonnen Holz im Jahr werden so nur fürs Kochen verbrannt. Die Regierung versucht deshalb, ländliche Haushalte mit modernerer Kochtechnik auszustatten; bis 2024 sollen nur noch 40 Prozent der Bevölkerung vom Holz zum Kochen abhängig sein. Diesem Ziel kommt das Land allerdings nur schleppend näher.

Die Klimaveränderungen setzen indes auch eine soziale Abwärtsspirale in Gang. Ernten fallen aus, die Preise für Lebensmittel steigen. Das Geld fehlt für andere Dinge und damit dem Wirtschaftskreislauf. Das wiederum bedeutet, dass der Staat weniger Steuern einnimmt, die er als Nothilfe für die besonders schwer Betroffenen zur Verfügung stellen kann. Im schlimmsten Fall birgt das ein hohes Potenzial für Konflikte und politische Instabilität. „Wenn ich etwas zu essen habe und du nicht, ist es mit dem sozialen Frieden schnell vorbei“, sagt Klimaforscher Abias Maniragaba.„Und das ist das beste Futter für Rebellen und Milizen, die angebliche Besserung versprechen.“

Die nationale Regierung Ruandas deklariert seit 2010 Hochrisikogebiete, in denen Menschen an ihrem Wohnort durch Überschwemmungen, Erdrutsche oder Dürren bedroht sind. Wer dort lebt, wird in Neubausiedlungen umgesiedelt, in sogenannte „Modern Villages“. In der Hauptstadt Kigali sind das vierstöckige Wohnblocks für Hunderte Menschen, auf dem Land schlichte, einstöckige Zweifamilienhäuser – aus Stahl und Beton.

Viele sind froh, dort zu sein. Früher konnten sie bei Regen nachts nicht schlafen, sondern mussten mit Gummistiefeln und Schaufeln versuchen, ihre Häuser zu schützen. In den Neubauten sind sie nicht nur vor solchen Gefahren geschützt, sie sind auch besser ausgestattet als früher. Es gibt fließendes Wasser, Strom und sogar ein kleines Stück Ackerland dazu. Das ist die eine Seite.

Die Regierung verkauft die Zwangsumsiedlungen deshalb gerne als Erfolgsgeschichte des sozialen Aufstiegs. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die neuen Häuser oft weit vom ursprünglichen Sozialraum entfernt sind. Viele Tausend Menschen haben ihr altes Zuhause verloren. Viele mussten Bekannten, Teile der Familie und Verdienstmöglichkeiten zurücklassen – das macht den Neustart schwierig.

Viele Tausend Kilometer weit im Norden, in Morschenich am Rand des Braunkohletagebaus Hambach in NordrheinWestfalen vermisst auch Jürgen Gerden sein früheres Dorfleben. Seine Frau Dagmar, mit der er einen kleinen Biobauernhof betreibt, hat ihr ganzes Leben in Morschenich gelebt. Ihre Eltern hatten das gemeinsame Haus gebaut, ihre drei Söhne sind hier aufgewachsen. 2010 begann der Energiekonzern RWE damit, die Häuser im Ort zu kaufen um den Kohlebaggern des Tagebaus Platz zu schaffen.

Manche haben deshalb verkauft und sind ins etwa fünf Kilometer entfernte NeuMorschenich gezogen, in ein von RWE und der Landesregierung finanziertes „Modern Village“ im Rheinland. Andere haben die Region verlassen. Wenige sind geblieben wie die Gerdens, haben vor Gerichten und auf der Straße gegen die Umsiedlung gekämpft. Sie waren erfolgreich, weil RWE unter zunehmendem politischem Druck 2020 entschied, das Dorf doch nicht wegzubaggern. Das alte Dorf aber gibt es trotzdem nicht mehr. Die Nachbarinnen und Nachbarn von damals fehlen Jürgen Gerden. „Loser Kontakt besteht noch, aber das ist natürlich nicht mehr wie früher.“ Die meisten Häuser sind verlassen, einige bereits abgerissen. Die Infrastruktur wurde lange nicht mehr instand gesetzt. Das Miteinander von damals ist Geschichte. Seit den 1950erJahren wurden laut dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) allein im Rheinland mehr als 40000 Menschen für den Braunkohletagebau umgesiedelt. Flora, Fauna, menschliche Lebensräume und Kulturlandschaften sind zerstört worden, um jährlich mehr als 100 Millionen Tonnen Braunkohle aus dem Boden zu holen und anschließend zu verbrennen. Mit den aktuellen Abbauplänen ist es nahezu unmöglich, die deutschen Klimaziele zu erreichen. Dass auch in Ruanda Menschen umgesiedelt werden müssen, findet Gerden zynisch. „Wir werden umgesiedelt, damit mehr Kohle verbrannt wird – die, weil ihnen dadurch die Lebensgrundlage entzogen wurde“, sagt er. „Würden wir nicht nur die Folgen, sondern die Ursachen des Klimawandels bekämpfen, könnten vielleicht alle dort leben, wo sie möchten.“

Ein Schuldeingeständnis der Industrieländer gibt es bislang nicht

Deutschland gilt oft als Vorbild in Sachen Klimaschutz. Auch wenn der durchschnittliche CO2Ausstoß pro Kopf hier 24 Mal so hoch ist wie in Ruanda – und die Bundesregierung ihre selbst gesteckten Klimaziele, anders als das ostafrikanische Land, zu verfehlen droht.

Das Pariser Klimaschutzabkommen erlaubt es in Artikel 6, dass Staaten, die ihre Ziele nicht erreichen, in bilateralen Abkommen ihre geplanten Einsparungen für eine finanzielle Gegenleistung durch einen anderen Staat umsetzen lassen können. Tatsächlich hat Deutschland im Frühjahr 2022 eine „Klima und Entwicklungspartnerschaft“ mit Ruanda vereinbart. Die Bundesregierung will das Land mit rund 200 Millionen Euro „bei der Umsetzung der nationalen Klimabeiträge (NDCs)“ unterstützen.

Um eine Kooperation im Sinne des Artikel 6 des Pariser Klimaschutzabkommens gehe es dabei aber nicht, sagt ein Sprecher des Bundesministeriums für Entwicklung und Zusammenarbeit. „Wir machen das hier nicht, damit woanders weiter Kohle verbrannt werden kann“, sagt auch Juliet Kabera, die Leiterin der Umweltbehörde Ruandas. Ähnlich hatte sich Ruandas Präsident Paul Kagame auf der Weltklimakonferenz in Scharm el Scheich geäußert: „Wir in Afrika sind bereit, etwa auf regenerative Energien umzustellen, aber nicht damit andere hier ihre Emissionen kompensieren können“, sagte er.

Unter der Hand heißt es aber doch, dass der Artikel6Mechanismus durch die Zusammenarbeit „wertschöpfend“ für die ruandische Seite gestaltet werden solle. Teil der neuen Partnerschaft sei es, die „Mobilisierung der Privatwirtschaft für Klimainvestitionen“ zu fördern. Unternehmen sollen leichter Klimaschutzprojekte in Ruanda finanzieren können – um neue Märkte zu erschließen und nebenher die eigene Unternehmensbilanz klimaneutral zu rechnen.

Wenn es um den Handel mit Emissionsrechten geht, schüttelt Faustin Vuningoma nur den Kopf. Er ist Vorstandsmitglied der Alliance for Food Sovereignty in Africa und der Pan African Climate Justice Alliance. „Wenn wir über Kompensationen reden, dann als Erstes darüber, wie ihr im Norden gedenkt, all die Schäden und das Leid, was ihr angerichtet habt, zu kompensieren.“ Ein Schuldeingeständnis der Länder des Nordens gibt es bislang nicht. Auch auf dem Weltklimagipfel in Ägypten wurde darüber gestritten, ohne Ergebnis.

Auf den vertrockneten Feldern in Bugesera werden die Not und die Frage nach der Verantwortung sehr konkret. Für Theoneste Barasebwa und seine Nachbarinnen und Nachbarn ist die Schuldfrage allerdings zweitrangig. Am wichtigsten für sie ist, ihre Familien ernähren zu können. Während global verhandelt wird, müssen sie versuchen, sich selbst zu helfen.

Ob sie glauben, dass der Regen wegen des Klimawandels ausbleibe? Darauf reagieren sie nur mit fragenden Blicken. Sie würden nur pflanzen und auf den Regen warten, sagen sie. So, wie sie es immer getan haben.

Süddeutsche Zeitung